KOLUMNE HRH TÊTE DE VEAU & SPECULAAS Eigentlich wollte ich heute Abend mit der Heidi nur einen feinen Kalbskopf essen und einen guten Landwein zwicken. Dann entwickelte sich die Geschichte aber in eine andere Richtung. Ein Gast kam früher als erwartet und aus dem trauten Diner wurde ein langer, bunter Abend. Aber lassen Sie mich der Reihe nach erzählen, wie sich der Kreis zwischen Tête de veau und Specu- laas schloss - und was sich dazwischen ereignete. Es war ein sonniger Novembertag des vergange- nen Jahres, der letzte Donnerstag eines milden Herbstmonates, welcher es gut mit uns Fischern und Jägern meinte. Wir hatten Fliegenbinder-Aus- stellung auf dem Programm und freuten uns alle über regen Besuch. Es begann zu Dunkeln. Heidi fuhr schon nach Hause ins kleine Bauerndorf, um die alte Zürcher- zuzu- Spezialität bereiten, denn das dauert etwas und ich musst ja bis zwanzig Uhr Besucher beraten. Wer trat ein, mit wehendem Haar und fröhlicher Miene, der Ari, genau Ari’t Hart, Rolle n d esi g n e r und seines Zei- deutlich chens Künstler mehr als Kaufmann, welcher sich nun nochmals eine neue Existenz auf- baut. Er hatte sich auf Freitag ange- meldet, um seine neue Kollektion zu präsentieren. Wir begrüssten uns herzlich und ich dachte als erstes «ob ein Holländer wohl Kalbskopf isst?» Nun, er ass und es schmeckte ihm sogar ausgezeichnet, genauso wie mir Spe- culaas, doch das zum Schluss, ich will nicht vor- greifen. Was dazwischen lag, ist genau das, was ein Fischerleben auch lebenswert macht, nämlich mit Freunden und lieben Bekannten in aller Welt Kontakt zu pflegen, sie zu treffen und mit ihnen endlos zu debattieren. Wie und warum ist die Fir- ma Pleite gegangen - und was jetzt? Wie war der Steelhead Run im Oktober? Hast Du den Muffel erlegt? Wann kommt der neue Irland- Film? Das Fragen und Reden begann logisch schon nach der Begrüssung und setzte sich beim Kalbskopf fort. Der Flaachemer vom Erb Richi ausVolken schmeckte ausgezeichnet dazu. Man weiss nun schon dies und das, und jenes will der oder dieser noch genauer wissen. Bald kommen die Geschich- ten dran; sehr wahre, wahre und vielleicht auch etwas weniger aber trotzdem noch wahre! Glück- licherweise, das stellen wir fest, sind wir über das Alter des nächtlichen «Fischwachsens» hinaus. Heidi brachte nun einen feinen Christstollen auf den Tisch, denn heute mittag war der Fluri Erwin an der Ausstellung und brachte uns nicht nur lieb- ste Grüsse von seiner Margrit, sondern sogar noch einen feinen Stollen, den sie für uns buck, mit. Das veranlasste mich, flugs in den Keller zu sprin- ten um einen «Bracchetto di Moirano 1992» von Scarpa aus dem Piemont heraufzuholen. Er baut ihn trocken aus und stellt die ideale Symbiose zu diesem Gebäck dar. Köstlich, dieser Rosenduft, köstlich der buttrige Geschmack des Stollens. Trotzdem wollte ich nun nicht länger warten und endlich die neuen Rollenmodelle von Ari sehen. Er packte sie aus, Stück für Stück aus einem feinen Tüchlein, Köstlichkeit um Köstlichkeit. Ich drehte an einem Stück. Das leise, zarte Sirren versetzte mich in ein kleineres Elysium. Hät mich einer da- bei gefilmt, hät man glauben können, ich hät ei- nen Vogel. Allein, weil dies eine rein redaktionelle Seite bleiben soll, will ich sogleich das Thema Fliegenrollen verlassen. Sie waren zwar der ei- gentliche Grund unseres Zusammentreffens, aber Fischerfreunde haben auch sonst soviel mitei- nander zu bereden. So kam denn als nächstes mein neues Album mit den Irland-Bildern auf den Tisch. Das Betrachten erstaunte den Ari deshalb, weil darin mehr Fotos von Blumen als von Fischen sind. Doch Fische wollte er sehen, also schauten wir uns geschwind noch das neueste Video «FliegenFischen III» an. Zwar noch mit Timecode und ohne letzte Korrek- turen präsentierte sich «Lachsfischen in Irland», aber der Ari mochte schon staunen, dass man auch auf der grünene Insel meterlange Lachse fängt und drei Forellen nebeneinander, welche zusammen 45 Pfund wiegen, hatte auch er bisher noch nicht gesehen. Als wir jedenfalls zu Tische zurückkehrten, hatte die Heidi schon alles für den Mocca bereitgemacht, fehlte nur der Pflümli, den der Erismann Kurt aus Eschenmosen noch aus richtigen Zipäätli, also den kleinen, wilden Mira- bellen brennt. Der schmeckt so gut, also ich sag es Ihnen - ein eigentlicher, innerer Vorbeimarsch. Ich machte also nochmals einen kühnen Griff im Kel- ler und Ari kramte in seinem Koffer, welcher immer noch unausgepackt im Gang draussen stand. Er brachte eine Schachtel auf den Tisch. Das, mein- te er, wäre nun die perfekte Beilage zum Espres- so mit dem Seitenwagen; Speculaas, ein echtes holländisches Butterguetzli. Und wie gut die wa- ren und wie perfekt die passten. «Morgen zieh ich mir die grösseren Hosen an», dachte ich. Wir kramten und kram- ten in der Schachtel, die Kaffeemaschine (und so auch die Heidi) hat- ten Arbeit in Hülle und Fülle, der Pflaumensaft wurde weniger und we- niger. Es waren, der Ari und ich einmal in Fahrt gekommen, nicht mehr zu bremsen. So war ich war denn froh, dass ich nicht, wie ehemals der Zürcher Staatsschreiber und Wortsetzer Keller, noch nach Hause lau- fen musste. Der kam mir deshalb in den Sinn, weil wir am Vorabend das grosse Vergnügen hatten, Gert Westphal zu erleben, welcher in brillantester Weise Gottfried Keller rezi- tierte und nicht etwa, weil dieser für seine enorme Trinkfreudigkeit bekannt war. Bevor wir nächtens zur völligen Unzeit den gemeinsamen Fischerabend beschlossen, erzählte ich Ari noch folgende Anekdote (frei nach nach dem GK-Kenner Prof. Martin Hintermann): Als Gottfried Keller einst nach langem Bechern in der Kronenhalle Richtung Enge nach Hause schwankte, er wohnte zu jener Zeit im Landolten- haus auf dem Bürgli, traf er im Raum Enge auf den Nachtwächter. «Können Sie mir sagen, wo hier der Staatsschreiber Keller wohnt», sprach er ihn an. Dieser zündete ihm mit der Laterne ins Gesicht und erwiederte erstaunt «Aber das sind sie doch selber Herr Staatsschreiber!» «Das weiss ich wohl auch noch Sie Klugscheisser», rief da der ange- trunkene Göpfi, «nur wo er wohnt weiss ich nicht mehr». H.R. Hebeisen PN 235/ 2021 ONLINE-SHOP WWW.HEBEISEN.CH 17